//Essay
Was bringt uns Spiritualität?
Ist sie nötig? Reicht uns nicht Wissenschaft – muss alles bewiesen und erklärbar sein? Oder wenn wir uns auf das Erwiesene und Erklärbare verlassen, als Basis für unser Leben, was fehlt uns dann? Ist Wissenschaft nicht ein Weg, zu erklären, wie etwas funktioniert – aber was ist mit der Frage nach dem Warum? Dem Sinn? Brauchen wir einen Zugang zu dem Sinn?
Spiritualität ist Erleben. Ist das Leben selbst. Nicht die Vorgänge des Lebens. Das, was in unserem Hirn passiert, wenn wir uns freuen. Das, was nachweislich in unserer Psyche passiert, wenn wir endschleunigen. Wege, wie wir Stress abbauen. Spiritualität ist das eigentliche Erleben davon. Das, was man fühlt – über den Chemie-Cocktail von Hormonen und anderen Botenstoffen in unserem Körpersystem hinaus. Das Leben an sich.
Ist Sinn und Erfüllung – letztlich Glücklich-Sein – wissenschaftlich erklärbar? Vielleicht – aber ist es erlebbar? Ist es spür- und anwendbar, wenn wir uns nur auf das fokussieren, was uns scheinbar sicher in Schulbüchern, Doktorarbeiten und Studien vorgelegt wird?
Wissenschaft bringt Sicherheit. Sie erklärt Dinge, die andere schon gedacht haben. Wissenschaft kann der Frage nachgehen, wie die Erde entstanden ist – zumindest kann sie versuchen, einer Antwort nachzukommen. Aber die Frage bleibt – warum? Warum gibt es die Erde? Gibt es überhaupt einen Grund? Oder müssen wir selbst den Grund für uns definieren? Suchen und finden?
Das Gespür von Glücklich-sein ist einerseits ein komplizierter aber doch gut erklärbarer Vorgang im Körper – Serotonin, Oxytocin, Endorphine, Endoconnabinoide, Noradrenalin… Wir verstehen immer mehr, wie der Körper zu dem Gefühl von Glücklich-Sein kommt. Wie wir unsere Körper in den Zustand von Glück versetzen können. Und trotzdem empfindet nicht jeder Glück gleich – eine Liebesbeziehung mit einem guten Maß Körperkontakt setzt zum Beispiel Oxytocin frei – ein Glückshormon. Und doch reagiert nicht jeder auf das Maß an Hormonen mit dem selben Maß an Glück.
Wir wissen – empirisch belegt – dass soziale Bindungen, einen Sinn im Leben zu haben, Dankbarkeit zu üben, Achtsamkeit und Sport unser Glücksempfinden fördern. Aber warum? Und warum haben Menschen so früh schon angefangen, sich den großen Fragen zu widmen? Dem Sinn des Lebens. Dem Anfang von Allem. Gott.
Mein Empfinden ist:
Wissenschaft gibt Sicherheit – sich und die Welt zu verstehen und zu sehen, was uns hilft.
Philosophie gibt uns Struktur – bei Nachdenken über die großen Lebensfragen nicht durchzudrehen, sondern dem Grübeln Leitplanken und Schubladen zu geben.
Religion gibt halt – oder sollte es zumindest. Denn sie liefert dem sinn-suchenden Menschen eine Basis für erlebbare Verbindung.
Spiritualität aber bietet genau diese Verbindung – sie ist die Essenz von dem, was sich alle Menschen wünschen. Wonach sie sich sehnen.
Wissenschaft kann zeigen, wie etwas ist.
Spiritualität kann uns helfen, darüber zu staunen. Es zu genießen. Das macht was mit uns
Ein Mensch, der ein rein materielles Weltbild hat (kein Gott, keine Metaphysik, kein höherer Sinn, keine Basis für Moral außerhalb der eigenen Willkür), würde letztlich ein eher leeres Leben leben – oder wie Viktor Frankl sagt: „Ein existenzielles Vakuum“.
Die Wissenschaft sucht nach dem Wie – nicht weil sie das Warum nicht sehen will, sondern weil es außerhalb ihrer Reichweite liegt. Doch genau dort beginnt die Spiritualität.
Wir brauchen Spiritualität – weil es den Unterschied zwischen funktionieren und leben macht. Erleben. Du kannst alles über Musik wissen – wie sie funktioniert. Warum sie im Körper das macht, was sie macht. Wie ein Lied aufgebaut oder verschiedene Instrumente zusammenwirken sollten. Du kannst ganz viel über Musik lesen. Aber Musik bewusst zu hören – das ist spirituell.
Etwas zu hören, was Dich berührt. Das zu erleben – nicht zu verstehen, warum es bewegt. Was es im Körper macht. Das Erleben an sich – das ist spirituell.
Du musst Dich dafür ganz auf die Musik einlassen – ihr Raum geben. Ganz bei ihr sein. Das ist eine spirituelle Praxis.
Das gleiche gilt zum Beispiel für Sex.
Wir können viel drüber reden, lesen, Podcasts hören und uns informieren. Wir können erklären, warum Menschen Sex wollen. Warum es sich gut anfühlt – und was wir tun können, damit es sich besser anfühlt. Auch da spielen unsere Hormone und Neurotransmitter rein. Und wie schön das ist, das erklären zu können – weil so können wir es auch verbessern. Uns verbessern. Warum wollen wir das verbessern? Damit wir noch mehr Freude beim ERLEBEN haben – was wieder hoch spirituell ist. Damit wir uns besser fühlen – und wir fühlen uns besser dadurch, dass wir in der Lage sind, uns mehr in einer Bewusstseinsebene aufzuhalten, die man als Präsenz, Hier und Jetzt oder spirituellen Raum bezeichnen könnte. Das Erleben ist der spirituelle Teil.
Vor einem Baum stehen und staunen ist Spiritualität.
Wie Staunen geht und was es im Körper macht – und zu verstehen, wie der Baum aufgebaut ist, ist Wissenschaft.
Mehr Wissenschaft führt häufig zu mehr Staunen – also beflügelt die Spiritualität.
Und mehr Spiritualität kann eine Neugier schaffen, das Erlebte zu verstehen – um dann letztlich wieder mehr oder tiefer erleben zu können.
Oder das Beispiel echter gefühlter Liebe.
Wissenschaft: Menschen wollen Liebe, weil sie über die Hormone, die ausgeschüttet werden, wenn man liebt und geliebt wird, Sicherheit, Zugehörigkeit und ein tiefes Wohlgefühl empfindet. Dieses Wohlgefühl ist ein Mix verschiedener Vorgänge im Körper. Und wir brauchen das, um uns fortzupflanzen, um uns umeinander zu kümmern und weil es sich gut anfühlt (sehr einfach wiedergegeben).
Spiritualität: Liebe gibt uns Zugang zu etwas Größerem als wir selbst. Es öffnet uns, berührt uns tief. Sie gibt uns das Gefühl von Sinnhaftigkeit. Dieses Gefühl an sich, trotz allem Wissen über Vorgänge im Körper, ist so erhaben, dass es sich nur Erleben lässt – nicht erklären. Wir fühlen: Ich bin gemeint. Ich bin gesehen. Ich bin wichtig und da. Ich bin verbunden. Ich bin du – und Du bist ich. Das zu ERLEBEN ist spirituell. Daraus einen tiefen Sinn für sein Dasein zu ziehen – ist spirituell.
Das Erklären, nachweisen und belegen zu können – das ist Wissenschaft.
Man hat den Eindruck, dass viele Tiere spirituell sein können – also sie Erleben etwas. Empfinden Freude und Spaß. Vielleicht sogar Dankbarkeit. Aber – soweit wir wissen – fehlt den meisten Tieren die Bewusstheit dafür. Sie können sich und das Erleben nicht reflektieren. In dem Sinne leben Sinne kann ein Hund beispielsweise spirituell leben, aber er versteht Spiritualität nicht und wird keine „spirituellen Fortschritte“ machen können.
Spiritualität und Wissenschaft sind Freunde. Sie gehen zusammen. Die eine Seite fühlt und spürt und erlebt. Die andere Seite erklärt und sichert das gefühlte ab. Sie erweitert Wissen.
Während die eine Seite loslässt und fließt, wirkt die andere Seite nüchtern und wohl überlegt.
Nur die eine Seite – und wir verlieren den Bezug zu der 3-Dimensionalen-Realität. Wir entwickeln uns kaum weiter – Menschen würden an einfachsten Krankheiten sterben – immer noch – obwohl sie vielleicht ein sehr glückliches Leben gelebt hätten.
Nur die andere Seite – dann fehlt es an Wärme und Würze im Leben. Alles wäre nüchtern und kalt – alles wäre sehr fortschrittlich, aber leer. Sinnlos.
Wissenschaft erklärt, funktioniert, kontrolliert, gibt Sicherheit.
Spiritualität erlebt, staunt, vertraut, gibt Sinn.
Wir brauchen Beides.
Um Spiritualität ist im eigentlichen Sinne keine Methode. Kein „Um-Zu“. Sie ist ein Raum. Ein Selbstzweck. Sie ist Präsenz. Das Erleben und Leben an sich.
Aber der Einfachheit halber (vielleicht macht es den Gedanken eigentlich viel komplizierter…) benutze ich hier Spiritualität aber als Begriff für die bewusste Beschäftigung mit ihr selbst. Also reserviere ich hier Spiritualität als Bezeichnung dafür, wenn man sie bewusst leben, verstehen, erleben und sich damit beschäftigen will – anstatt sie „nur“ und eher organisch zu erleben – wie es Babies und kleine Kinder authentischerweise tun – ohne ein bewusstes Verständnis zu haben.
Die 4 Typen der Spiritualität
Um also spirituell zu leben, und mit Hilfe der Spiritualität als Mensch wachsen und glücklicher sein zu können, gibt es Hilfe. Von 4 Gruppen von Personen – die sich auch gerne in einer Person vereinen können – im besten Fall ist man das auch selbst – denn man sollte sich in spirituellen Themen nicht zu sehr auf die scheinbare spirituelle Expertise von anderen Menschen verlassen. Das widerspricht dem eigentlichen Punkt von Spiritualität – nämlich dem selbst erleben von ihr.
Diese vier Typen sind:
Mystiker.
Alchimisten.
Philosophen.
Spirituelle Lehrer.
Mystiker
Sie halten sich gerne in einem Raum auf, wo sie selbst unmittelbare transzendente Erfahrungen machen. Sie erleben das Leben sehr bewusst – erweitern ihr Bewusstsein immer weiter. Sie wollen mehr fühlen. Mehr wahrnehmen. Wahrheit spüren. Sie suchen nach Gott – nicht weil sie ein festes Bild von so einer Gottheit bräuchten. Nein, sie wollen Gott spüren. Wahrheit und Liebe spüren.
Mystiker meditieren, halten sich viel in der Natur auf, lesen Poesie, erleben Ekstase.
Sie brauchen nicht wirklich ein festes Dogma. Keinen Diskurs oder einen Streit darüber, wer recht hat. Sie würden sagen: Probier doch einfach selbst und fühl mal rein. Guck mal selbst, was es mit Dir macht.
Alchimisten.
Ein Alchimist will sich Entwickeln. Ein Alchimist integriert spirituelle und viele andere Aspekte in sein Leben, um sich zu transformieren. Im besten Fall zu einer echteren Version von sich selbst – eine echte Ent-wicklung. Eine Verwandlung.
Ein Alchimist macht Energie-Arbeit – aktiv an sich selbst und vielleicht an anderen. Ein Alchimist macht Chakra-Meditationen, Schattenarbeit, aktive Imaginationen. Er arbeitet mit inneren Bildern, Traudeutungen und Symbolen. Er arbeitet mit dem Körper.
Alles mit dem Ziel, sich zu transformieren – da unterscheidet er sich vom Mystiker, der einfach erleben will.
Ein Alchimist will nicht einfach nur reden und Theorien schwingen. Bringt ja nichts. Er will es anwenden, üben und die Veränderung bemerken.
Philosophen.
Ein Philosoph denkt über große Fragen des Lebens nach. Ein Philosoph fragt nach dem Sinn des Lebens, nach Moral und Sein. Ein Philosoph ist systematisch, kritisch und argumentativ. Er sucht Weisheit. Er ordnet auch wissenschaftliche Erkenntnisse in das Weiterdenken dieser Fragen ein – und kommt dadurch zu neuen Antworten – oder neuen Fragen.
Philosophie ist keine empirische Wissenschaft – aber sie kann eine Grundlage für Erkenntnis, Ethik, Logik und für Wissenschaftstheorie legen.
Ein Philosoph denkt viel nach. Schreib sich Gedanken auf. Nimmt sich ein Thema und meditiert darüber. Liest viel – auch wissenschaftliche Dinge, um sein Denken zu erweitern. Er fragt vor allem viel. Und er ist eher nüchtern.
Er braucht nicht unbedingt überwältigende transzendierende Erfahrungen. Muss seine eigenen Ich-Grenzen nicht aufwachen. Er muss nicht tanzen oder lange Atmungs-Sessions machen. Er meditiert nicht, um des Meditierens willen. Die Meditation muss eine Frage, eine gezielte Aufgabe haben.
Spirituelle Lehrer.
Ein spiritueller Lehrer hilft aus seiner Erfahrung und Erkenntnis (hoffentlich Weisheit) heraus anderen Menschen, ihren Weg zu innerer Tiefe, Selbsterkenntnis und Wahrheit zu finden. Er berichtet, was er erlebt und gesehen hat – und welche Mechanismen ihm geholfen haben. Oft systematisiert er sein Wissen auch – damit Menschen damit etwas anfangen können. Er spricht oft in Bildern. Letztlich kommt von ihnen die Religion, die im eigentlichen Sinne des Wortes Menschen „wieder verbinden“ soll – also in Verbindung mit sich und Allem bringen soll. Auch wenn Menschen diese Rolle des Spirituellen Lehrers und der Religion oft pervetieren und verdrehen.
Ein spiritueller Lehrer hält Vorträge und leitet Meditationen an. Er führt Atemübungen durch und erklärt, was da passiert. Er gestaltet Rituale und bewegt sich oft bewusst in einem dogmatischen Gebäude – ohne dieses Gebäude als die Wahrheit zu verkaufen. Denn sie liegt dahinter.
Er will (wenn es ein guter ist), nicht dogmatisieren. Es geht nicht um feste Regeln und Gebote. Und er will auf gar keinen Fall als Guru wahrgenommen werden – er will, dass die Menschen selbst ihre eigenen Gurus sind.
Ein spiritueller Lehrer braucht vor allem eins, wenn er ein guter Lehrer sein will: Demut.
Weil Spiritualität, wenn sie gelebt wird, zu einem tiefen Gefühl der Verbundenheit, des inneren Friedens, tiefer Liebe und Dankbarkeit führt, ist sie einerseits ein wichtiges Werkzeug für Menschen – um glücklich sein zu können. Erfüllt zu sein und sich nicht fragen zu müssen, ob das Leben sinnlos ist. Sie eröffnet Tiefe – um alles intensiver wahrnehmen zu können.
Andererseits ist sie ein Selbstzweck – eine Lebensform, die uns Menschen in die Wiege gelegt zu sein scheint. Wir scheinen spirituelle Wesen zu sein – die fühlen, erleben, entdecken, wachsen und lieben wollen. Nicht nur aus den Trieben unser evolutionären Entwicklung als Tiere heraus – der Hunger ist tiefer.
Spiritualität vs. Wissenschaft – für Moral und Ethik.
Moral ist ein Begriff für konkrete Normen und Werte, die oft kulturell geprägt sind. „Du sollst nicht lügen“ ist zum Beispiel ein moralisches Konzept.
Ethik ist die philosophische Reflexion über die Moral, also z.B. warum ist Lügen falsch? Ist es falsch? Ethik ist überindividuell und systematisch.
Wissenschaft kann z.B. auswerten, was passiert, wenn Menschen ‚moralisch‘ handeln. Sie kann zeigen, wie Menschen moralisch handeln und kann die Auswirkung von verschiedenen moralischen Konzepten miteinander vergleichen und auswerten. Aber sie kann – oder darf – nicht sagen, ob etwas an sich gut oder schlecht ist. Sie kann nicht sagen, was man tun soll.
Wissenschaft entscheidet nicht, ob Gewalt moralisch falsch ist – sie kann Auswirkung von Gewalt auf Menschen, die Entstehung von Traumata aufzeigen und erklären.
Spiritualität liefert eine lebendige dynamische Basis für diese Moral. Sie dient als sinnhafte, erlebbare Orientierung für das Handeln – durch das Erleben und das Lernen von der spirituellen Ebene leitet man Verbundenheit ab und entwickelt ein vollständigeres Bild von richtig und falsch – was das meist kulturell geprägte Bild ergänzen oder ersetzen kann. Interessant, dass überall auf der Welt wahre Spiritualität zu sehr ähnlichen Wertvorstellungen und moralischen Grundsätzen kommt. Wahre Spiritualität – nicht das, was Menschen daraus zu machen versuchen. Nicht dogmatische Religion. Denn das ist die Gefahr bei Spiritualität – dass es Dogmatisch wird. Dass plötzlich Regeln und eine scheinbar faktische Wahrheit den Zugang zu dieser tiefer liegenden erfahrbaren Wahrheit verschließt.
Ich finde den Gedanken schön, dass Liebe alles verändern kann. Wenn Liebe uns selbst, unsere Familien, unsere Orte, Städte, Länder und letztlich die ganze Welt durchzieht, würden wir auf einer wunderbaren Erde leben, wo es keine Kriege, keine Gier und Zerstörung mehr gäbe – sondern Respekt, Freundschaft, gemeinsames Wachstum. Genug für alle.
Wissenschaft erklärt, wie Liebe wirkt. Sie könnte auswerten, wie sich ‚liebevolle‘ Menschen verhalten und hochrechnen, was die Auswirkungen von Liebe auf eine Gesellschaft sein könnten. Sie könnte dieses luftig wirkende Konzept realistisch und anfassbar machen.
Spiritualität ist die Quelle der Liebe – sie zeigt, wie sich Liebe anfühlt. Was sie wirklich ist und transformiert so einzelne Menschen und Gesellschaften. Aus ihr kommt die Energie, die so eine liebevolle Gesellschaft möglich machen könnte.
Wir brauchen Beides.